Fast 100 Prozent der Deutschen kannten seinen Namen

Am 2. Juni wäre der Literaturkritiker Marcel-Reich Ranicki einhundert Jahre alt geworden. Dass Reich-Ranicki einmal der deutsche „Literaturpapst“ werden sollte, der dem Namen nach laut Umfragen fast 100 Prozent der Deutschen ein Begriff war, war beileibe nicht abzusehen. Im Warschauer Getto hatte er kaum gelesen, und in den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte er sich ganz auf seine politische Arbeit: „Die Literatur schien mir ein Erlebnis meiner frühen Jahre – und nicht mehr.“


Von Ansgar Lange

 “ Als er in Polen aus allen Ämtern und der kommunistischen Partei vertrieben wurde, entschied sich MRR, so sein Kürzel, quasi über Nacht, Literaturkritiker zu werden. Schon sein Lehrer in Berlin hatte ihm das prophezeit. Nach eigenen Angaben wandte er sich Anfang der 1950er Jahre auch immer mehr vom Marxismus ab. Mit seiner polnischen und kommunistischen Vergangenheit schloss er schließlich ab und wollte nur eins sein: ein deutscher Literaturkritiker. Im schon recht fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren brach er somit zu völlig neuen Ufern auf.

MRR hat sich Zeit seines Lebens – neben der Familie und der Musik – fast ausschließlich für Literatur interessiert und nichts anderes getan als zu lesen und zu schreiben. Außerdem war er mit einer immensen Energie ausgestattet, mit brennendem Ehrgeiz und dem festen Willen, nicht wieder ein Opfer zu sein, kein Außenseiter und auch niemals Schwäche zu zeigen. Vielleicht erklärt dies – neben seiner stupenden Belesenheit und Begabung – warum schon vier Wochen nach seiner Ankunft in Deutschland am 18. August 1958 sein erster Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) erschien. Bald nahm er auch an der jährlichen Tagung der „Gruppe 47“ teil, der damals maßgeblichen und tonangebenden Literatentruppe in der Bundesrepublik. Und er legte sich gleich auch mit den ganz Großen an und besprach „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. „Sein Artikel über Grass, nahezu ein Verriss, erscheint am 1. Januar 1960.

„Wohl Jude, wie?“

Recht bald sollte ihn der damalige Literaturchef der FAZ, Friedrich Sieburg, der als eine Art früher Literaturpapst der Bundesrepublik galt, als lästige Konkurrenz wahrnehmen. Sieburg war überdies nicht völlig unbelastet, was seine Vergangenheit anging. „Wohl Jude, wie?“, soll Sieburg den damaligen Polen-Korrespondenten der FAZ, Hansjakob Stehle, gefragt haben, als dieser ihm Reich-Ranicki vorgestellt hatte.

Schließlich kündigte der Ältere dem Jüngeren, in dem er wohl den künftigen „Großkritiker-Konkurrenten“ (Wittstock) sah, die Mitarbeiterschaft bei der FAZ, weil dieser seiner Auffassung nach zu viele Aufsätze für die Tageszeitung „Die Welt“ verfasst hätte. MRR wechselt zur Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ als Hauptarbeitgeber. Erst 1973 wechselte er wieder zur FAZ, als er das Angebot erhielt, unter dem für das Feuilleton verantwortlichen Mitherausgeber Joachim Fest zum  dortigen Literaturchef zu werden.

In seinen Hamburger Jahren fühlte sich Reich-Ranicki trotz seines steigenden Einflusses als Außenseiter und häufig einsam. Er arbeitete in dieser Zeit nur vom eigenen Schreibtisch aus und wurde zu den Redaktionskonferenzen der „Zeit“ nicht eingeladen. Und auch die Intellektuellen, die sich sonst gern immer so weltoffen und tolerant geben, empfanden das vorlaute Naturell des Kritikers, der sich nicht den Mund verbieten ließ, als unbequem. Es gab zahlreiche Versuche, ihn von den Treffen der „Gruppe 47“ auszuschließend. Schon damals machte man ihm Vorwürfe, die später wiederkehren sollten, als er das „Literarische Quartett“ beim ZDF moderieren sollte. MRR, so der Vorwurf, betrachte Literaturkritik nicht ausschließlich als intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Buch, sondern als Versuch, Einfluss auf den Buchmarkt auszuüben. Auch sein impulsives Temperament und seine Meinungsfreude sollten im Laufe der Jahre bei Großschriftstellern wie Böll, Grass oder Walser nicht immer gut ankommen.

Als der Hitler-Biograph Joachim Fest ihn schließlich fragte, ob er die Literaturredaktion der FAZ übernehmen wollte, musste Reich-Ranicki nicht lange überlegen. Eingebunden in einen ganz normalen Redaktionsalltag, den er bei der „Zeit“ so nicht gekannt hatte, wurden die FAZ-Jahre von 1973 bis 1988 zumindest beruflich zu seinen glücklichsten Jahren. Mit 53 Jahren stand ein neuer Lebensabschnitt an.

Literaturkritik für die Leser

Fest ließ seinem Starkritiker in den 1970er und 1980er Jahren weitestgehend freie Hand. Nach der Ära von Karl Heinz Bohrer ging es Fest und MRR jetzt vor allem darum, in der FAZ eine Literaturkritik zu etablieren, die sich dem Publikum zuwandte und deutlich journalistischer wurde. MRR erwies sich Wittstock zufolge „als ein nahezu unerschöpfliches redaktionelles Kraftwerk“, er organisierte lautstarke Debatten und war nun nicht mehr als Solist wie bei der „Zeit“ tätig, sondern als „Dirigent“, dem ein ganzer FAZ-Literaturapparat zur Verfügung stand. Mit der politischen Linie des Frankfurter Weltblattes und den Leitartikeln stimmte er jedoch häufig nicht überein. Bei all dieser angestrengten Aktivität gelang es ihm offenkundig, die Schrecken seiner Biographie zunächst nach außen hin hinter sich zu lassen. „Von seinen Erlebnissen während des Holoaust hat Reich-Ranicki in jenen Redaktionsjahren kaum je geredet“, schreibt sein Biograph.

Es mutet geradezu pervers an, dass sich viele Schriftsteller das Sterben und den Tod des verhassten Großkritikers vorstellten. „Die hier sichtbar werdenden Ausgrenzungs- und Vernichtungswünsche sind erschreckend. Zumal die betreffenden Autoren bewusst oder aus Gedankenlosigkeit mit ihren Todes- oder Tötungsphantasien auf die psychischen Traumata eines jahrelang ausgegrenzten, von Deutschen verfolgten und mit dem Tod bedrohten Mannes zielten, was ihre Attacken menschlich besonders beklemmend macht“, so Uwe Wittstock.

Der Popstar

Nach seiner aktiven Zeit bei der FAZ wurde aus dem Literaturpapst der „Popstar“ Reich-Ranicki, der vor einem Millionenpublikum im Fernsehen Literatur besprach und nach Herzenslust polemisierte. Die Einnahmen aus seinen Erinnerungen „Mein Leben“ machten MRR zu einem finanziell sehr unabhängigen Mann. Bevor er mit 93 Jahren in seiner neuen Heimat Frankfurt am Main verstarb, hatte er in seinen letzten Jahren mehr und mehr die Lebensenergie und sogar die Lust an der Literatur verloren. Die letzten Zeilen von Wittstocks Biographie lassen den Leser betroffen zurück. Da zitiert dieser nämlich Reich-Ranickis Sohn Andrew: „Mein Vater(…)hat mir gesagt, vor etwa zwei Jahren, nachdem meine Mutter verstorben ist, es wäre ein Novum in der neueren Geschichte unserer Familie, dass wir überhaupt ein Grab haben. Weder seine Eltern noch sein Bruder noch die Eltern meiner Mutter haben ein Grab.“

 

Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biographie. Piper Verlag: München 2020. 432 Seiten. ISBN 978-3-492-31432-9.

Nach oben