Der langjährige „Welt“-Journalist Ansgar Graw stellt in seinem aktuellen Buch die These auf, dass wir zurzeit eine „grüne Hegemonie“ erlebten. Dies mag unter anderem an der „medialen Dauerpräsenz grüner Kernanliegen“ liegen. Für die Zeit vor Ausbruch der Corona-Krise galt dies sicher in vielen Bereichen. Ob dies nach Corona auch noch so sein wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand beurteilen.
Die Grünen als „fantasiebefreites Ressentiment wider die Moderne“
Der Journalist Ansgar Graw legt eine kritische Bilanz zu Bündnis90/Die Grünen vor
Von Ansgar Lange
Der langjährige „Welt“-Journalist Ansgar Graw stellt in seinem aktuellen Buch die These auf, dass wir zurzeit eine „grüne Hegemonie“ erlebten. Dies mag unter anderem an der „medialen Dauerpräsenz grüner Kernanliegen“ liegen. Für die Zeit vor Ausbruch der Corona-Krise galt dies sicher in vielen Bereichen. Ob dies nach Corona auch noch so sein wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand beurteilen.
Zurzeit schlage eher die „Stunde der Mitte“, meint der „Welt“-Redakteur Robin Alexander. Die Grünen, die neben den Rechtspopulisten in den vergangenen Monaten Konjunktur gehabt hätten, täten sich schwer, in den Krisenmodus zu finden: „So brüskierte Parteichef Robert Habeck Hoteliers und Vermieter von Ferienhäusern in Existenznöten mit dem Vorschlag, sie sollten die Zeit eingeschränkter wirtschaftlicher Aktivität dazu nutzen, ihre Ölheizungen auszubauen und in klimafreundlichere Modelle zu investieren. Als gebe es gerade keine anderen Sorgen.“
Graw, inzwischen Herausgeber des Debattenmagazins „The European“, sieht den „grünen Konformismus“ und die „ökologische Korrektheit“ äußerst kritisch. Ihn stört der Anspruch der grünen Partei, die Welt zu retten. Dass links der Grünen über kurz oder lang eine „Party for Future“ als radikalgrüne Partei deutlich links vom heutigen Original entstehen könnte, hält der Autor für nicht ausgeschlossen. In der Vergangenheit habe die Partei häufig auf der falschen Seite gestanden, so Graw. Er kann nicht erkennen, warum dies künftig anders sein sollte.
Ein wenig mehr Struktur und Ordnung hätte dem insgesamt durchaus lesenswerten Buch gut getan. Bisweilen fehlt bei der kenntnisreichen Beschreibung der Grünen der rote Faden. Doch die einzelnen Kapitel fügen sich durchaus zu einem Gesamtbild. Aber spannender als der Blick in alte Zeiten, in denen es bei einigen Vertretern der Grünen zum Beispiel ein nicht geringes Pädophilie-Problem gab, ist der Blick darauf, was grüne Politik heute konkret bedeutet oder bedeuten könnte.
Die halbherzige Umweltpolitik von CDU und SPD war ein Grund für das Erstarken der Grünen. Doch inzwischen ist ein durchaus vernünftiges Anliegen zu einem „Ökomoralismus“ degeneriert. Und dieser „verlangt mit zunehmender Lautstärke Unterwerfungsgesten von Politik und Gesellschaft“. Für das Primat der Reduzierung von CO2-Emissionen sei kein Preis zu hoch, meinen die grün Bewegten. Graw weist an mehreren Stellen nach, dass das vielleicht gut gemeinte in der Praxis häufig das Gegenteil bewirkt (zum Beispiel beim Verbot von Plastiktüten). „Der Ökomoralismus trägt ersatzreligiöse Züge, wenn er den unbedingten Glauben an die Richtigkeit seiner Botschaft einfordert und Abweichler als ‚Leugner‘ aus der Gemeinde auszuschließen trachtet. Er bietet gar ein ‚jüngstes Gericht‘, nämlich den Klimawandel, der uns durch verheerende Unwetter, steigende Meeresspiegel und eine letztlich unbewohnbare Welt für unsere Sünden, den Konsumismus und die Gier, bestrafen wird. Die Endzeit kommt!“, schreibt der Verfasser.
Entgegen ihrem frischen Image sei Angst oft der Taktgeber ihrer Verbotspolitik, die wenig Zukunftsvertrauen ausstrahle. „Leider begegnet uns das Grüne derzeit allzu häufig als fantasiebefreites Ressentiment wider die Moderne“, so Graw.
Interessant ist auch das Kapitel über die Grünen und die AfD. Es trägt die provokative Überschrift: „Warum Grüne und AfD einander brauchen“. Hier werden sicher einige aufheulen. Graw setzt beide Parteien aber nicht gleich und weist auf die gravierenden Unterschiede zwischen ihnen hin, auch wenn die Grünen zumindest in ihrer Anfangszeit auch Extremisten in den eigenen Reihen gehabt hätten: „Dass die Unterschiede zwischen Grünen und AfD immens sind, bedarf keiner Betonung. Dass aber beide Parteien schwächer wären, wenn es die jeweils andere nicht gäbe, ist evident.“ Grüne und AfD vitalisieren sich gegenseitige. Mancher frühere Unions- oder SPD-Wähler, so der Autor, wechselt zur AfD, weil er fürchtet, dass die Grünen noch mehr Migranten ins Land holen. Und vormalige Christsoziale habe 2018 in Bayern beispielsweise die Grünen gewählt, weil Seehofers Forderung nach Kontrollen an innereuropäischen Grenzen zu sehr nach AfD geklungen habe.
Gibt es auch Positives über die Grünen zu berichten? Unter dem Gespann Schröder-Fischer sei das Land innen- und außenpolitisch modernisiert worden, meint Graw. Und Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg ist für ihn eine sehr positive Figur und gilt laut Umfragen als Deutschlands beliebtestes Ministerpräsident. Allerdings steht er in vielen Fragen, nicht zuletzt in puncto Automobilindustrie, quer zur Mehrheitsmeinung seiner Partei.
Graw zieht das Fazit, dass den Grünen große Verdienste gebühren. Sie hätten die „Menschheit“ für das Thema Umwelt sensibilisiert. Doch heute verfolgten sie im Kern „eine den Menschen und die Wirtschaft gängelnde linke Politik, die nicht auf den Markt setzt, sondern auf den Staat“. Die Energiewende sei mehr auf das Wünschbare denn auf das Machbare gegründet. Und sie hätten kein realistisches Konzept bezüglich der weltweiten Flüchtlingsströme entwickelt. Denn nur das weitgehende Öffnen von Grenzen werde nicht die Lösung sein.
Ansgar Graw, Die Grünen an der Macht. Eine kritische Bilanz. FBV:München 2020, 304 Seiten, 22,99 €.